MITWISSER

Sozialheld und Gründer Krauthausen im Interview

Anlässlich des Mitwisser Vortrages am 12.01.2016 sprach Nexster mit dem mehrfachen Gründer und „Sozialheld“ Raúl Krauthausen – einem Entrepreneur mit Behinderung:

Wann haben Sie das erste Mal gemerkt, dass Sie behindert/anders sind?
Das erste mal so richtig gemerkt, habe ich es wohl in der Schulzeit, als es im Sport nicht mehr nur um Spaß ging, sondern um den Leistungsvergleich. Bei den Wettbewerben konnte ich nicht mehr mithalten und habe gemerkt, dass ich anders bin als andere. Natürlich war mir schon vorher bewusst, dass ich einen Rollstuhl brauche, den andere nicht brauchen und dass ich mir schneller was breche, aber ich habe mich trotzdem nicht als “behindert” bezeichnet, weil es für mich keine Einschränkung war, da mir meine Eltern und Freunde immer das Gefühl gaben, dazu zugehören und ich somit kaum vor Barrieren stand.

Wie gingen Ihre Eltern damit um, ein behindertes Kind zu haben?
Meine Eltern sind von Anfang an sehr pragmatisch gewesen. Ich wurde in Peru geboren, aber meine Eltern sind dann nach Deutschland gezogen, weil hier die Grundvorraussetzungen für behinderte Menschen besser sind. Ich kann mir vorstellen, dass meine Eltern viel mehr bei Ärzten und in Amtsstellen gesessen haben, als andere Familien und dass ich mehr Betreuung brauchte. Es war für meine Eltern aber auch sofort klar, dass sie nicht immer für mich da sein können und ich ein eigenes Leben finden sollte. Deswegen bestand viel in meiner Erziehung auch darin, dass ich selbstständig werden soll. Meine Eltern wollten, dass ich auf eine integrative Schule gehe und einen Abschluss mache. Als ich mal erwähnte, dass ich keine Lust auf das Abitur habe und lieber von der Schule gehen möchte, meinten sie nur ganz trocken: “Aber Dachdecker kannst du auch nicht werden.”

Dieser Pragmatismus meiner Eltern hat mir zurückblickend doch mehr geholfen, als eine Überbetreuung.

Wie war Ihre Kindheit mit Behinderung?
Meine Kindheit war wohl nicht anders, als die von anderen Kindern. Durch die Glasknochen habe ich mir beim Spielen öfter mal etwas gebrochen, aber meine Mutter ist Ärztin, weswegen wir nicht ständig ins Krankenhaus fahren mussten. Durch einige größere Operationen musste ich längere Zeit im Krankenhaus bleiben, was natürlich genervt hat, so wie es jedes Kind nerven würde. Davon abgesehen hatte ich eine sehr schöne Kindheit mit vielen Freunden und Spaß.

Was bedeutet es, die Glasknochenkrankheit zu haben?
Das ist schwer zu beantworten, weil ich ja keinen Vergleich zu einem Leben ohne Glasknochen habe. Ich muss an manchen Stellen mehr aufpassen, zum Beispiel, dass ich mit meinen Rollstuhl nicht gegen eine Laterne fahre, weil ich mit dem Handy spiele. Das würde mir aber wohl auch ohne die Glasknochen passieren.

Ansonsten muss ich meinen Alltag mehr planen, als Menschen ohne Behinderungen. Jeden Tag. Denn am Morgen und Abend bin ich auf Assistenzen angewiesen, die mir bei verschiedenen Sachen helfen.

Wie oft haben Sie sich schon die Knochen gebrochen?
Das habe ich aufgehört zu zählen. Es sind bestimmt mehr als hundert mal.

Wie groß sind Sie?
Ungefähr einen Meter.

Wann haben Sie aufgehört zu wachsen?
Als ich auf meiner Blechtrommel gespielt habe.

Wer hilft Ihnen im Alltag?
Dafür habe ich Assistenzen, die mir am Morgen und Abend helfen und auch Aufgaben im Haushalt übernehmen. Sie sind meine verlängerten Arme. Auf der Arbeit helfen mir meine Kollegen, beispielsweise mit den Türen oder wenn ich meinen Laptop brauche.

In welchen Situationen fühlen Sie sich behindert?
Ich versuche gerne das Wort “behindert” aus einer anderen Perspektive zu betrachten, weil wir ja oft Menschen sehen, die im Rollstuhl sitzen oder eine Sehbehinderung haben und dann denken: der oder sie ist ja behindert. Dabei wird der Mensch in dem Moment es gar nicht so empfinden, sondern den Rollstuhl als ein Mittel sehen, das Freiheit bringt und nicht behindert. Wenn man dann aber vor der nächsten hohen Stufe, Treppe oder einem defekten Aufzug steht, dann ist man behindert oder besser gesagt: wird behindert.

Diese Behinderungen können baulicher Art sein, aber sie kommen auch sehr oft in der Bürokratie vor. Ich muss mich zum Beispiel beim Finanzamt alle Daten angeben, mich komplett durchleuchten lassen. Deswegen fordere ich auch ein besseres Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen, damit die finanzielle Situation unabhängig von der Behinderung betrachtet wird.

Denn kein Mensch kann etwas für seine Behinderung, aber eine Gesellschaft kann behindern. Oder auch nicht.

Gewöhnt man sich daran, die Blicke anderer Menschen auf sich zu ziehen?
Ganz gelassen werde ich damit wohl nie umgehen können, weil ich selbst gerne Menschen beobachte und das nicht machen kann, wenn ich schon alle Blicke auf mich ziehe. Ich glaube aber dass ich heute gelassener damit umgehen kann, weil ich versuche zu verstehen, warum das so ist. Nur, wenn ich wirklich angestarrt oder auch komisch von der Seite angesprochen und auf meine Behinderung reduziert werde, dann nervt mich das doch sehr.

Wie reagieren die Menschen auf Sie? / Wie gehen andere Menschen mit Ihrer Behinderung um?
Werden Sie bemitleidet?
Ich werde selten direkt bemitleidet. Das passiert dann eher “hinter meinem Rücken”, wenn Menschen glauben zu wissen, wie schwer mein Leben ist, weil man ja selbst auch schon mal Zivildienst gemacht hat. Ich finde das immer sehr unangenehm, weil man sich doch nicht anmaßen sollte, zu wissen wie sich jemand anderes fühlt.

Machen Menschen sich über Sie lustig?
Ganz selten. Das passiert eher anonym im Netz, bei irgendwelchen Kommentaren oder E-Mails a la “Was bist du denn für nen komischer Zwerg?” Aber das geht mir nicht nah. Es gibt halt überall komische Leute.

Können Sie über Behindertenwitze lachen?
Ja das kann ich, aber trotzdem erzähle ich nicht gerne Behindertenwitze, weil es ganz oft einer der ersten Fragen von Medienvertreterinnen und Journalisten ist. Humor ist eine tolle Sache, aber sollte keine Alibi-Handlung sein, nach dem Motto: so jetzt haben wir mal 5 Minuten über Inklusion gesprochen, jetzt erzählen wir uns Witze. Das ist mir zu einfach. Lassen sie uns erstmal in der Inklusion weiterkommen, dann können wir auch gemeinsam über Witze lachen.

Können Sie über Behindertenwitze lachen?
s.o.

Wie wollen Sie genannt werden? Welche Begriffe (Handicap, Mensch mit Behinderung und Co) bevorzugen Sie?
Mensch mit Behinderung finde ich eine gute Bezeichnung, weil es den Menschen an die erste Stelle setzt. Am besten finde ich aber Bezeichnungen, die nicht unbedingt was mit meiner Behinderung zu tun haben. Einmal habe ich gelesen: “Der Mann mit Mütze” – das fand ich super.

Lieber Raúl Krauthausen, herzlichen Dank für das Interview, wir freuen uns auf Sie als Mitwisser!